Der 1676 datierte und damit während des Aufenthalts von Matthias Rauchmiller in Wien entstandene „Prunkhumpen“ gilt wegen seiner herausragenden künstlerischen Qualität und aufgrund des komplexen inhaltlichen Programms als das bedeutendste Werk der deutschen Elfenbeinkunst des Barock.
Es ist auch zugleich das einzige Kunstwerk aus Elfenbein, das durch eine Signatur ohne Zweifel Matthias Rauchmiller zugeschrieben werden kann. An der Wandung des Humpens gestaltete der Künstler seine sehr persönliche Interpretation des Raubes der Sabinerinnen, ein mythologisches Ereignis, welches einen historischen Kern in sich birgt und den kriegerischen Überfall der Römer auf die jungen Frauen der Sabiner schildert.
Die von Romulus und Remus, den Söhnen des Mars und der Rhea Silvia, gegründete Stadt Rom wurde von Männern besiedelt, denen es aufgrund ihres zweifelhaften Rufes nicht gelang, heiratswillige Frauen zu finden. Entschlossen, der noch jungen Stadt eine Zukunft zu sichern, verbreitete Romulus das Gerücht, dass der Altar eines Gottes gefunden worden sei, zu dessen Ehren die Einwohner der Stadt und der ländlichen Umgebung ein Fest feiern sollten. Mit seinen Gefolgsleuten hatte Romulus zuvor vereinbart, die Männer der benachbarten Sabiner, welche der Einladung ohne Waffen nachkamen, gewaltsam zu vertreiben und ihre Töchter zu rauben. Dieser kriegerische Überfall auf die jungen Frauen, denen fortan der römische Ehestand aufgezwungen war, präsentiert sich dem Betrachter des Elfenbeinhumpens mit äusserster Dramatik. Schon die Fülle der Figuren erzeugt ein klaustrophobisches Gefühl der Enge, aus der es kein Entrinnen gibt. Während die zeitgenössische Malerei das Thema meist in eine elegante, daher verharmlosende Form brachte, schildert Rauchmiller trotz der Schönlinigkeit der Körper und Draperien die Erzählung als gewalttätiges Geschehen. In heftiger Bewegtheit windet sich der Figurenfries um den Corpus.
Der Deckel des Gefässes enthält nicht nur den über den zu Boden geworfenen, mit Helm, Rüstung, Schild und Schwert bewaffneten Mars triumphierenden Liebesgott, sondern auch den für das Thema des Relief-Frieses passenden Kommentar. Neben sich tummelnden Eroten zieht sich eine lateinische Inschrift, verteilt auf drei verschiedene Bänder, über die Szene hinweg: „MARS STERNIT PRATA / SED HIC VICTORIA / PARTA“, was sinngemäss übersetzt heissen könnte: „Mars zertritt die Wiesen, doch wird hier der Sieg geboren“. Die Schnitzereien des Figurenfrieses erreichen eine Tiefe von bis zu 23 Millimetern, sodass die tief unterschnittenen Figuren teilweise freiplastisch hervortreten. Der Humpen ist trotz der Fragilität dieser oft hauchdünnen Details exzellent erhalten, und auch dieser Umstand macht ihn zu einer Besonderheit. Rauchmiller arbeitete – anstelle der üblichen Fassung aus Edelmetall – auch den Deckel und die Handhabe aus Elfenbein. Letztere formte er aus einer doppelgesichtigen weiblichen Herme, und selbst konstruktiven Teilen wie dem Scharnier, das aus einem Delfinkopf besteht, verlieh er figürliche Form.
- Material/Technik
- Elfenbein
- Masse
- 34,8 × 27,3 × 20,2 cm
- Erwerb
- erworben 1707 durch Fürst Johann Adam Andreas I. von Liechtenstein
- Künstler/Beteiligte
- Matthias Rauchmiller
- Inventarnummer
- SK 326
- Signatur/Bezeichnung
- sign. und dat. am unteren Rand in erhabenem Schnitt: ANNO 1676 MATHIAS RAVCHMILER FECIT
- Provenienz
- Erworben 1707 durch Fürst Johann Adam Andreas I. von Liechtenstein von Dr. Wolfgang Karl Lebzelter, Wien
- Entstehungsort
- Wien
- Ikonografie
- Der Raub der Sabinerinnen
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